Badische Zeitung vom 16.02.2006:
SWR-Redakteur Stephan Krass über sein Hörspiel "Ponderabilien"
 
"Stephan Krass, Literaturredakteur beim Südwestrundfunk in Baden-Baden mit Wohnsitz in Freiburg und New York, ist der Berechenbarkeit poetischer Verfahren auf der Spur. Gedichte, so sein Leitsatz, werden nicht aus Ideen gemacht, sondern aus Buchstaben. Im Verfertigen und Installieren von Anagrammen hat es Krass zur Meisterschaft gebracht. Heute um 21 Uhr ist im Kommunalen Kino Freiburg in einer Vorpremiere sein neues Hörspiel “Ponderabilien” zu hören. Bettina Schulte sprach mit Krass über eine ganz besondere Leidenschaft.
 
BZ: Bisher war mir nur der Begriff “Imponderabilien” bekannt. Was soll ich mir unter “Ponderabilien” vorstellen?
 
Stephan Krass: Ponderabilien sind Wägbarkeiten. Wir haben es mit einem poetischen Verfahren zu tun, in dem es um Wiegen und Messen geht. Nachdem ich das Anagramm ausgelotet hatte, kam in mir das Bedürfnis auf, den Schwierigkeitsgrad meiner Anstrengungen zu erhöhen. Ich habe zu den 26 Buchstaben die zehn Zahlzeichen dazugenommen. Diese 36 Ziffern kann man im Sinn der aus dem Mittelalter überlieferten Ars Combinatoria alphanumerisch kombinieren.
 
BZ: Alphanumerisch?
 
Krass: Ich kann jedem Buchstaben eine Zahl zuordnen. A =1, B =2 bis zum Buchstaben Z mit der Ordnungszahl 26.
 
BZ: Und dieses Verfahren stammt aus dem Mittelalter?
 
Krass: In unseren Zeichensystemen war zuerst die Zahl. Und dann kamen die Buchstaben. Das schöne deutsche Wort “Erzählung” trägt seinen Ursprung aus der Zahl noch in sich.
 
BZ: Das ist etymologisch belegt?
 
Krass: Ja, sicher. Mit dem alphanumerischen Verfahren kann man jedem Wort ein spezifisches Gewicht zuordnen. Das Wort “Gedicht” zum Beispiel hat das Gewicht von 56. Und jetzt ergibt sich aufgrund der alphanumerischen Gleichzahl jenseits von Etymologie, Sprachverwandtschaft und Grammatik ein völlig neues Synonymfeld, über das ich Worte in Verbindung bringen kann. Der Zahlenwert 56 trifft auf viele andere Worte zu.
 
BZ: Bei Ihnen ist weder Inspiration noch Empfindung noch das berühmte Zünden der Welt im lyrischen Ich im Spiel?
 
Krass: Arithmetik statt Semantik sage ich immer gern polemisch. Ich verfüge ja über denselben Wortschatz wie jeder andere auch, bloß mein Wortschatz ist über Zahlen geordnet. Das inspiriert mich, und das beruhigt mich.
 
BZ: Sie bringen Ordnung in die Dichtung.
 
Krass: Eine andere Ordnung. Und durch diese andere Ordnung entstehen Konstellationen, die ich mit der herkömmlichen semantischen Ordnung nicht herstellen kann.
 
BZ: Im Hörspiel gibt es dafür ein paar Beispiele. Da werden Gedichte von Hölderlin, Mörike, Benn, Matthias Claudius dem alphanumerischen Verfahren unterzogen. Es kommen ganz andere Texte heraus.
 
Krass: Das Einzige, was gleich ist, ist der Zahlenwert jeder Zeile - und ich habe das Reim- und Rhythmusschema beibehalten. Aber Sie finden auch eine ganze Reihe eigener Gedichte, die ganzen 351er-Gedichte zum Beispiel. (351 ist die Quersumme aller Buchstaben-Zahlenwerte, Anm. d. Red.) Ich habe mein eigenes alphanumerisches Wörterbuch entwickelt, da sind 15 000 Begriffe drin. Das ist mein Steinbruch.
 
BZ: Da steckt eine Menge Arbeit drin.
 
Krass: Ich arbeite seit vielen Jahren daran. Das ist ein großes Projekt.
 
BZ: Was hat Sie daran gereizt, ihr Verfahren in die Ars Acustica zu überführen?
 
Krass: Es ist der Reiz jedes experimentellen - und das heißt: am Material und nicht an Inhalten interessierten - sprachlichen Verfahrens, den Klangwert der Buchstaben und den Klangraum der Sprache einzubeziehen. Hinzu kam der Glücksfall, dass ich den Komponisten Thomas Gerwin in Berlin kennen gelernt habe. Den konnte ich mit meiner Buchstaben- und Zahlenobsession anstecken. Der hat ein wunderbares Klangalphabet für mich komponiert.
 
BZ: Wo bleibt die künstlerische Freiheit?
 
Krass: Das Gedicht ist Form, hat Benn gesagt. Wenn wir vor der großen Anforderung der Worte stehen, suchen wir Schutz bei Dingen, die wir kennen: den Methoden. Ich habe die Genugtuung, dass ich selbst eine entwickelt habe."
 
“Ponderabilien” wird am 2. März um 21.03 Uhr auf SWR 2 gesendet.
 
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